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Sarah, ich bitte dich, steh auf – ich will, dass du lebst.

 

Buch 1

 

Als du starbst, warst du allein unter vielen Menschen. Eigentlich bist du zwei Mal gestorben, einmal als Zuschauer vor der Tür des Duschraums, als du durch das Fenster Vater, Mutter, Schwester und Bruder sterben sahst – und das zweite Mal, nachdem der Duschraum gereinigt und wieder neu gefüllt worden war – dieses Mal war auch Platz für dich.

 

Als ihr den langen Gang zum Duschraum getrieben wurdet, hieltet ihr auch an der Hand. Da war keine Zeit, sich tröstende Worte zu sagen. Die Türen schlossen sich vor dir, als man mit Gewehrkolben deinen Bruder in die letzte Winzigkeit von Raum gepresst hatte. Er hatte den Kopf zu dir gewendet. Du sahst deinen Vater, der versuchte, dich nicht mit seiner Nacktheit zu schockieren, denn du hattest ihn nie so gesehen. Deine Mutter war mit dem Rücken zu dir hineingestoßen worden und nun reckte sie dir die Hände entgegen, mit den Handflächen nach oben, als ob sie dich tragen wollte. Ihr schien dies wichtiger, als die Hände zu benutzen, um ihre Brüste zu bedecken. Warum auch, diese Brüste, sie hatten dich genährt, hatten dir Kraft gegeben, deinen Weg bis hierher zu gehen, bis zu der Tür des Duschraums. Deine Schwester und dein Bruder, sie hielten sich weiter an den Händen und schauten zu dir zurück und diese Blicke trafen dich, die man allein vor der Tür des Duschraums zurückgelassen hatte. Ja, ich weiß, als das Gas aus den Duschköpfen kam und den Raum vor dir in ein Inferno verwandelte, hättest du dich abwenden sollen, aber du konntest nicht. Wie hypnotisiert schautest du auf die Szenerie, sahst, wie aus den Gesichtern, die dir noch vor Momenten das Liebste auf Erden gewesen waren, schmerzverzerrte Fratzen wurden, bar jeder Menschlichkeit; die Münder aufgerissen. Nach unten blickend sahst du die weitere Erniedrigung in Form der Exkremente, die an den Beinen herunter floss, aber noch etwas sahst du.

 

Trotz aller Schmerzen, trotz aller Erniedrigung, trotz des greifbaren Todes hielten sich dein Vater, deine Mutter, deine Schwester und dein Bruder auf einmal eng umschlungen, wendeten ihre Blicke zum Fenster zurück und, kurz bevor der Tod sie erlöste, gelang es ihnen, so schien es dir, eine Art von Lächeln zu dir nach draußen zu geben – und du verlorst für einen Augenblick deine entsetzliche Angst, die einem großen Bedauern wich, dass du von dieser letzten Umarmung ausgeschlossen warst.

 

Ich werde deinen Tod nicht beschreiben und ich werde ihn nicht akzeptieren. Ich werde dich mit Worten aus dem Gas des Todes und dem Feuer des Ofens wieder auferstehen lassen. Ich werde dir das Leben zurückgeben, das man dir, die du ohne Schuld warst, weggenommen hat. Du wirst meine Schwester sein, die ich in Schutz nehme und behüte. Ich werde dir ein Leben erfinden, das du hättest ausfüllen können.

 

Der Schluss könnte sein:

 

Sarah, ich wollte dass du aufstehst, ich wollte, dass du lebst und die bist aufgestanden und hast gelebt. Jetzt bist du dorthin zurückgekehrt, wo ich dich deinem ersten Tod entrissen habe, weil ich diesen Tod als so ungerecht und sinnlos empfand. Es war deine eigene Wahl, in diesen Raum zurückzugehen und deinen Tod, den ich nicht wahrhaben wollte, erneut und endgültig herbeizuführen. Ich sehe euch alle, deinen Vater, deine Mutter, deinen Bruder und deine Schwester, und jetzt auch dich, mit ihnen zusammen, wie ihr euch alle liebevoll umarmt und wie eure Umarmung zu einer allumfassenden Geste wird, die uns zurückgebliebenen beschämt und so, wie ich zu Beginn gefleht habe:  Sarah, steht auf, ich will das du lebst“, so sage ich jetzt: Auch wenn ihr gestorben seid, habt ihr und werdet ihr unser Leben bereichern, und die Schuld für das, was wir euch angetan haben, darf und wird auf dieser Welt nicht getilgt werden können. „Sarah, ich will, dass du deinen Frieden hast.“

 

(Beginn und mögliches Ende  eines noch nicht abgeschlossenen Roman-Projekts mit dem Arbeitstitel „Ein geschenktes Leben“, begonnen im April 2001)